Wäre Oberto conte di San Bonifacio nicht von beachtlicher Qualität und vielversprechend gewesen, hätte Bartelomeo Merelli Verdi sicherlich nicht gebeten, einen Vertrag über drei weitere Opern für die Scala, Italiens erstes Opernhaus, zu unterzeichnen. Wenngleich Oberto auch nicht zu jener ausgewählten Gruppe der vor Rigoletto (1851) entstandenen Opern gehört, ist Verdis erste Oper doch mehr als eine bloße Kuriosität und in mancher Hinsicht gelungener als verschiedene der Werke aus jener Zeit, die er später seine ‚anni di galera‘ nannte. Falls die angenommene Chronologie von Verdis Arbeit an Oberto den Tatsachen entspricht, konnte er mehr Zeit auf diese Komposition verwenden als auf irgendeine andere bis hin zum letzten Abschnitt seiner Theaterlaufbahn. Kenner der italienischen Oper können sich an all den Echos und Anklängen erfreuen, die die Partitur durchziehen, von den auf dramatische Weise unterbrochenen Hochzeitsfeierlichkeiten (Finale des I. Akts), die an Donizettis Lucia di Lammermoor (1835) erinnern, über die Rossinismen von Cunizas Arie (II. Akt) und die altmodischen Tonmalereien des „limpido ruscello“ im Duett Riccardo/Cuniza (I. Akt) bis hin zu Vorahnungen späterer Opern Verdis. Letztere umfassen Themen, die in enger Verbindung zur Eröffnungsmusik des I. Akts von La traviata und zu Leonoras Kavatine im Trovatore (beide 1853) stehen, ganz zu schweigen von der gefühlsgeladenen Vater-Tochter-Beziehung im Duett Oberto/Leonora (I. Akt), die ein zentrales Motiv aus einer Reihe Verdischer Meisterwerke ins Bewustsein ruft. Abgesehen davon verdient Oberto auch für sich selbst genommen Interesse. Viele Kritiker waren verblüfft über die Sicherheit der Musik, über die prägende Kraft einer Komponistenpersönlichkeit bereits in diesem frühen Stadium ihrer Entwicklung, und über ein charakteristisch Verdisches Moment, welches das Werk unausweichlich zu seinem tragischen Ende treibt, an dem keiner der Protagonisten der Macht des Schicksals entgehen kann. Es resultiert aus einem außergewöhnlichen, so nur Verdi eigenen melodisch-rhythmischen „drive“ seiner Tonsprache, der den dramatischen Höhepunkten eine bislang unerhörte plakative Direktheit des Ausdrucks verleiht, so im (auf Wunsch Merellis ergänzten, von Verdi selbst als beste Nummer der Oper bezeichneten) Quartett des II. Akts, das den Gestus lodernder Erregtheit der besten Stücke aus Ernani (1844) vorwegnimmt. Auch einige instrumentale Abschnitte sind von großer Wirkung, etwa die Orchestereinleitung zum Ritterchor „Dov'è l’astro che nel cielo“ (II. Akt). Eine bedauerliche dramaturgische Schwäche liegt in der unzureichenden Exponierung der Vorgeschichte, die nicht in ausreichendem Maß, etwa durch erzählende Rückblenden (wie in vergleichbarer Weise im Trovatore), szenisch konkretisiert erscheint. Insgesamt erweist sich Verdis erste Oper, misst man sie an den gleichzeitig entstandenen Werken Mercadantes oder Donizettis (nicht zu reden von der zeitgenössischen französischen Oper), doch eher als künstlerisches Versprechen denn als eigenständige schöpferische Leistung.
Jesse Rosenberg
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